Tarifeinheitsgesetz vor Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt seit heute darüber, ob Tarifeinheitsgesetz verfassungsgemäß ist, das Andrea Nahles in 2015 auf den Weg gebracht hat.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verhandelt seit heute darüber, ob die Gesetzesänderungen verfassungsgemäß sind, die Andrea Nahles mit dem Tarifeinheitsgesetz im Jahr 2015 durchgesetzt hat. Die Thematik ist sowohl rechtlich, als auch politisch hoch brisant. Es geht mit dem Streikrecht und der Tarifautonomie um Interessen von Verfassungsrang. Grund genug, die Verhandlung in Karlsruhe im Blick zu behalten und die rechtlichen, wie politischen Hintergründe zu beleuchten.

Tarifeinheit – was ist das?

Es geht vordergründig um die Frage, ob in einem Betrieb immer nur ein Tarifvertrag gilt oder ob mehrere zur Anwendung kommen können. Im Wesentlichen geht es letztlich aber darum, was die Antwort auf diese Frage für das Streikrecht und die Tarifautonomie der Gewerkschaften bedeutet. Wenn in einem Betrieb Mitarbeiter arbeiten, die in unterschiedlichen Gewerkschaften organisiert sind, die jeweils eigene Tarifverträge mit dem Unternehmen oder einem Arbeitgeberverband geschlossen haben, können im Ergebnis mehrere Tarifverträge einschlägig sein. Ein aus der Presse bekanntes Beispiel hierfür ist die Deutsche Bahn. Dort sind einige Mitarbeiter in der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GdL), andere in der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) organisiert, die zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gehört.

Bis zum Jahr 2010 löste das Bundesarbeitsgericht (BAG) diese und ähnliche Konfliktfälle nach dem Grundsatz der Sachnähe auf. Grundsätzlich sollte in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten – und zwar der, der den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebs am ehesten gerecht wurde. In einer weitreichenden Entscheidung aus dem Jahr 2010 kippte das BAG diese Rechtsprechung. Es gebe keine gesetzliche Grundlage dafür, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten müsse. Durch den Grundsatz der Tarifeinheit werde die Tarifvertrags- und Koalitionsfreiheit derjenigen Gewerkschaften beschränkt, deren Tarifvertrag letzten Endes nicht zu Anwendung kommt. Immerhin handelt es sich dabei um Grundrechte, die die Verfassung den Gewerkschaften garantiert.

Große Macht der kleinen Gewerkschaften

Für kleine Gewerkschaften, die bislang noch nicht über die erforderliche Verhandlungsmacht verfügten, um einen Tarifvertrag auszuhandeln, änderten sich durch die Aufgabe der Tarifeinheit die Vorzeichen. Nach der Entscheidung des BAG war es möglich, dass in einem Betrieb mehrere Tarifverträge zur Anwendung kamen. Die Lokomotivführer konnten also einen eigenen Tarifvertrag aushandeln und mussten nicht mehr den Tarifvertrag der EVG akzeptieren, der für alle Mitarbeiter der Bahn gelten sollte. Folge waren Streiks. Die in der GdL organisierten Lokomotivführer legten den Bahnverkehr praktisch lahm. Brisant und vielfach kritisiert war dabei vor allem, dass die Mitglieder der GdL nur einen Bruchteil der Gesamtbelegschaft der Bahn ausmachten. Weil aber eben ohne Lokomotivführer die Züge wirklich (noch) nicht fahren können, schafften es diese wenigen Mitarbeiter, einen enormen Druck auf das Unternehmen aufzubauen.

Lösung – Tarifeinheitsgesetz?

Die Streiks und die Verhandlungspolitik der GdL führten vielerorts zu Missmut. Dies war Motor für die Politik, sich der Sache anzunehmen. Als Bundesarbeitsministerin setzte Andrea Nahles schließlich die Gesetzesinitiative in Gang, die nun vom Bundesverfassungsgericht untersucht wird. Kernpunkt des Tarifeinheitsgesetzes ist, dass künftig eben doch wieder nur ein einzelner Tarifvertrag in einem Betrieb gelten soll. Das soll nun derjenige sein, der von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern in dem betroffenen Betrieb abgeschlossen wurde. Der Effekt für die kleinen Gewerkschaften liegt auf der Hand. Das Gesetz verbietet ihnen zwar nicht unmittelbar das Streiken. Es besteht aber faktisch kaum eine Chance, dass ein ausgehandelter Tarifvertrag in der Praxis zur Anwendung kommt. Denn in den großen Gewerkschaften sind in der Regel nicht nur Mitarbeiter einer bestimmten Berufsgruppe organisiert, sondern Arbeitnehmer aller Berufe, die in dem Betrieb vertreten sind. Die großen Gewerkschaften werden deshalb stets mehr Mitglieder in den Betrieben haben und sich ihr Tarifvertrag voraussichtlich durchsetzen.

Möglicherweise doch Einschränkung des Streikrechts?

Diese Folge wird nun vor allem deshalb kritisiert, weil sie möglicherweise doch das Streikrecht – also ein von der Verfassung geschütztes Grundrecht – durch die Hintertür einschränkt. Ein Streik muss einem zulässigen Zweck dienen, nämlich dem Abschluss eines Tarifvertrags. Rein politisch motivierte Streiks sind jedenfalls nach der Rechtsprechung des BAG unzulässig. Wenn eine kleine Gewerkschaft streikt, besteht nach dem Tarifeinheitsgesetz nun die Gefahr, dass ein Gericht den Streik verbietet. Der Arbeitgeber kann sich nämlich mit dem Argument vor Gericht wehren, dass der Streik kein zulässiges Streikziel verfolge, sondern rein politisch motiviert sei. Wenn ein Tarifvertrag, den die Gewerkschaft mit dem Streik erreichen will, am Ende ohnehin nicht zur Anwendung kommen kann, welches zulässige Streikziel verfolgt dann noch der Streik?

Das Tarifeinheitsgesetz ist auch deshalb politisch so umstritten, weil die Streiks durch die kleinen Berufsgruppengewerkschaften regelmäßig Lebensbereiche betreffen, die eine breite Öffentlichkeit unmittelbar berühren. Während ein Streik in einer Zementfabrik in erster Linie den Fabrikbesitzer und allenfalls mittelbar die Gesellschaft betrifft, ist es bei einem Streik bei der Bahn, im Flugverkehr oder in Krankenhäusern genau umgekehrt. Dort sind zahlreiche Pendler, Reisende und Kranke betroffen. Befürworter des Tarifeinheitsgesetzes sehen darin eine Möglichkeit sicherzustellen, dass die Versorgung der Öffentlichkeit nicht darunter leidet, dass sich Gewerkschaften und Arbeitgeber(-verbände) nicht einig werden. Zudem stärke es die Solidargemeinschaft im Betrieb, weil sich nicht einzelne Berufsgruppen auf Kosten der anderen besser stellen könnten. Gegner hingegen sehen in der Beschränkung die Gefahr, dass ganzen Berufsgruppen die Möglichkeit genommen wird, durch Zurückhaltung ihrer Arbeitsleistung den Kräften der Marktwirtschaft entgegenzutreten und angemessene Löhne auszuhandeln. Das Bundesverfassungsgericht wird in dem aktuellen Verfahren darüber zu befinden haben, ob das eine oder andere Interesse überwiegt und ob Frau Nahles mit dem Tarifeinheitsgesetz ein angemessener Ausgleich gelungen ist. Bis zu einer Entscheidung wird es allerdings noch ein paar Monate dauern. 

Hintergrund: Wie wirkt ein Streik eigentlich?

Aus Sicht der Gewerkschaften ist ein Streik das zentrale Mittel, um sicherzustellen, dass Arbeitnehmer auf Dauer ihren Lebensstandard halten bzw. am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben können. Unterstellen wir, dass in einer Marktwirtschaft ein angemessener Preis für eine Ware von Angebot und Nachfrage definiert wird. Sinkt das Angebot im Verhältnis zur Nachfrage, steigt der Preis und umgekehrt. Soweit so marktliberal. Es soll Lebensbereiche geben, in denen die ungebändigten Kräfte des Marktes es nicht schaffen, einen sozialen Interessenausgleich zu schaffen. Der Markt um Arbeitskraft gehört zu diesen Lebensbereichen. Grund dafür ist das sogenannte Konkurrenzparadoxon: Im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wird Arbeitsleistung gegen Lohn getauscht. Der Lohn ist also der Preis für die Arbeitsleistung. Aufgrund stetiger Inflation werden die Lebenshaltungskosten tendenziell teurer. Damit die Arbeitnehmer ihren Lebensstandard halten können, brauchen sie mehr Geld. Bleiben die Löhne unverändert, können sie das erreichen, indem sie mehr arbeiten. Dann steigt aber das Angebot an Arbeitsleistung gegenüber der Nachfrage. Folge ist, dass der Preis für die Arbeitsleistung, also der Lohn weiter sinkt.

Streik ist insofern nichts anderes als Zurückhaltung der Arbeitskraft, um den geschilderten Mechanismus zu stoppten. Wird Arbeitskraft zurückgehalten, wird das Verhältnis von angebotener zu nachgefragter Arbeitsleistung wieder ausgeglichen und der Preis für die Arbeitsleistung steigt wieder an.

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Florian Wagenknecht

Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht

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Hanna Schellberg

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