Das LAG Niedersachen hatte in seinem Urteil vom 18. April 2024 u.a. darüber zu entscheiden, ob ein Arbeitnehmer gegenüber seinem Arbeitgeber einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG hat. Nach § 3 Abs. 1 EFZG hat ein Arbeitnehmer einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn er durch die Arbeitsunfähigkeit in der Erbringung seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.
Im gerichtlichen Verfahren bestritt der Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers.
Beweislast, -mittel und -wert einer AU-Bescheinigung in der Diskussion
Nach den allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 EFZG (BAG, Urteil v. 11.12.2019, 5 AZR 505/18 – Rn. 16). Der Arbeitnehmer muss damit seine Arbeitsunfähigkeit, also den Krankheitsfall, darlegen und beweisen.
Eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit wird dabei in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) im Sinne des § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG bewiesen.
Im Normalfall gilt der Beweis durch die Vorlage einer ordnungsgemäß ausgestellten AU-Bescheinigung als erbracht. Das LAG spricht der AU-Bescheinigung einen hohen Beweiswert zu, welcher durch ein einfaches Bestreiten oder ein Bestreiten mit Nichtwissen nicht berührt wird.
Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung ist möglich
Die praktische Bedeutung des Urteils des LAG Niedersachsens liegt in den Ausführungen zur Möglichkeit der Erschütterung des Beweiswerts einer AU-Bescheinigung. Dabei knüpft das LAG Niedersachen an die Rechtsprechung des BAG (Urteil v. 13.12.2023 – 5 AZR 137/23) an und entwickelte diese konsequent fort.
Das LAG Niedersachsen stärkt die beweisrechtliche Situation der Arbeitgeber im Falle der Vorlage einer AU-Bescheinigung. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert der AU-Bescheinigung „nur“ (aber immerhin) dadurch erschüttern,
dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zu kommt.
Der Beweiswert einer AU-Bescheinigung nach § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG kann – so das LAG Niedersachsen – nach den Umständen des Einzelfalls auch wegen Verstößen des ausstellenden Arztes gegen bestimmte Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AURL) erschüttert sein. In dieser Hinsicht seien jedoch nicht alles Vorgaben der AURL beweisrechtlich bedeutsam; irrelevant seien jedenfalls rein formale Vorgaben mit kassenrechtlicher Bedeutung. Die Verletzung der Vorgaben der § 4 und § 5 AURL, die gerade der ärztlichen Bestimmung der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit dienen, werden nach der Rechtsauffassung des LAG Niedersachsen regelmäßig zur Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung führen.
Beweisrechtliche Folge der Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung
Als Folge der Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand.
Der Arbeitnehmer trägt die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen, die den Schluss einer bestehenden Krankheit zulassen. Hierzu ist jedenfalls ein substantiierter Vortrag dazu erforderlich, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Dabei muss der Arbeitnehmer zumindest laienhaft bezogen auf den Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben (BAG, Urteil v. 13.12.2023 – 5 AZR 137/23).
Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung von erheblicher Praxisrelevanz
Die skizzierte Rechtsprechungslinie stärkt die Rechte der Arbeitgeber und greift die tatsächliche Bedeutung der AU korrekt auf. Die Möglichkeit der Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung ist ein praktisch bedeutsames Einfallstor für Fälle, in denen nur eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit naheliegend ist.