Die Frage, ob ein Arbeitgeber auch bei einer Freistellung oder im Falle einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zur Zahlung von Gehalt verpflichtet ist, beschäftigt Unternehmen regelmäßig. Ein wegweisendes Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen (Az.: 6 Sa 416/23) bringt neue Klarheit in diese rechtliche Grauzone. Besonders spannend ist die Kombination aus der Prüfung des Beweiswertes von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und den Folgen unklarer Freistellungsentscheidungen. Was bedeutet dieses Urteil für Unternehmen und wie können Arbeitgeber solche Situationen rechtssicher meistern? Im Folgenden erfährst du, worauf es bei der Entgeltfortzahlung bei Freistellung ankommt und welche Fallstricke es zu vermeiden gilt.
Ausgangspunkt des Rechtsstreits beim LAG Niedersachens: Arbeitgeber stellt Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in Frage
Der Fall, der dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen zugrunde lag, dreht sich um die Vergütungsansprüche einer kaufmännischen Angestellten in Teilzeit. Nach einer Freistellung und der Vorlage mehrerer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen verweigerte der Arbeitgeber die Zahlung des Gehalts für den betroffenen Monat Dezember. Die Klägerin machte geltend, dass sie trotz Freistellung Anspruch auf Vergütung habe, da der Arbeitgeber sich in Annahmeverzug befunden habe. Zudem argumentierte sie, dass ihre Arbeitsunfähigkeit korrekt nachgewiesen worden sei. Der Arbeitgeber hingegen stellte den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen infrage und berief sich darauf, dass die Freistellung keine Verpflichtung zur Gehaltszahlung nach sich ziehe.
Die rechtlichen Grundlagen der Entgeltfortzahlung bei Freistellung und Annahmeverzug
Die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung von Gehalt hängt maßgeblich von der rechtlichen Einordnung der Freistellung und dem Verhalten der Parteien ab. Nach § 611a Abs. 2 BGB schuldet der Arbeitgeber Vergütung für tatsächlich geleistete Arbeit. Gleichzeitig regelt § 615 BGB, dass der Arbeitgeber auch dann zur Zahlung verpflichtet sein kann, wenn er sich im Annahmeverzug befindet. Ein Annahmeverzug tritt ein, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung anbietet, der Arbeitgeber diese jedoch nicht annimmt. In besonderen Fällen, etwa bei einer unwirksamen Kündigung, kann ein Angebot der Arbeitsleistung entbehrlich sein.
Zusätzlich ist im Krankheitsfall das Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) einschlägig. Nach § 3 EFZG hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Gehaltszahlung für bis zu sechs Wochen, sofern er seine Arbeitsunfähigkeit ordnungsgemäß nachweist. Dabei kommt der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein hoher Beweiswert zu, den der Arbeitgeber jedoch unter bestimmten Voraussetzungen erschüttern kann.
Annahmeverzug tritt ein, wenn der Arbeitgeber die angebotene Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nicht annimmt, obwohl dieser zur Erbringung der Leistung bereit und in der Lage ist. In Fällen, in denen der Arbeitgeber ausdrücklich erklärt, dass er die Arbeitsleistung nicht annehmen werde, kann ein Angebot durch den Arbeitnehmer entbehrlich sein. Im vorliegenden Fall genügte die WhatsApp-Nachricht des Geschäftsführers, um den Annahmeverzug auszulösen.
Arbeitgeber sollten sich bewusst sein, dass eine Freistellung sorgfältig formuliert und dokumentiert werden muss. Unklare oder mündliche Aussagen können rechtlich bindende Konsequenzen haben. Eine präzise schriftliche Freistellung, die den Zeitraum und die Bedingungen eindeutig definiert, ist entscheidend, um Missverständnisse zu vermeiden.
LAG Niedersachsen: Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erfüllten nicht die Voraussetzungen, um den Anspruch auf Entgeltfortzahlung zu begründen
Das Gericht entschied, dass der Klägerin für einen Teil des Monats Dezember ein Anspruch auf Vergütung zustehe. Dies begründete es mit einer faktischen Freistellung durch den Arbeitgeber. Eine WhatsApp-Nachricht, in der der Geschäftsführer mitteilte, dass die Klägerin „diese Woche nicht mehr kommen“ solle, wurde als Freistellung gewertet. Dadurch geriet der Arbeitgeber gemäß § 615 BGB in Annahmeverzug. Da die Klägerin ihre Arbeitsleistung unter diesen Umständen nicht anbieten musste, war der Arbeitgeber verpflichtet, für diesen Zeitraum die Vergütung zu zahlen.
Für den restlichen Monat wies das Gericht die Klage jedoch ab. Die vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erfüllten nicht die Voraussetzungen, um den Anspruch auf Entgeltfortzahlung zu begründen. Das Gericht stellte fest, dass einige Bescheinigungen ohne persönliche Untersuchung ausgestellt wurden, was einen Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie (AURL) darstellt. Diese Richtlinie sieht vor, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur nach persönlicher Untersuchung oder im Rahmen einer zulässigen Videosprechstunde ausgestellt werden darf. Da die Bescheinigungen diesen Anforderungen nicht genügten, war ihr Beweiswert erschüttert.
Welche Konsequenzen ergeben sich für die Entgeltfortzahlung bei Freistellung?
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen zeigt, wie wichtig klare Kommunikation und die Einhaltung formaler Vorgaben sind. Eine unüberlegte Äußerung wie die WhatsApp-Nachricht des Geschäftsführers kann rechtlich als Freistellung gewertet werden. Unternehmen sollten sich bewusst sein, dass solche Aussagen sie schnell in den Annahmeverzug bringen können, was zu einer Zahlungspflicht führt, auch wenn die Arbeitsleistung nicht erbracht wurde.
Gleichzeitig verdeutlicht der Fall die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Arbeitgeber dürfen solche Bescheinigungen kritisch hinterfragen, wenn sie nicht den Vorgaben der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie entsprechen. Das Gericht hat klargestellt, dass Bescheinigungen, die auf rein telefonischen Angaben beruhen oder unangemessen lange Zeiträume abdecken, an Beweiswert verlieren können.
Wie Arbeitgeber den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen prüfen können
Arbeitgeber haben das Recht, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung anzuzweifeln, wenn konkrete Umstände Zweifel an ihrer Richtigkeit begründen. Verstöße gegen die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie, etwa das Fehlen einer persönlichen Untersuchung, sind hierbei besonders relevant. Auch eine unangemessen lange Bescheinigung ohne medizinische Begründung kann den Beweiswert erschüttern.
Das Gericht betonte, dass Arbeitnehmer bei erschüttertem Beweiswert zusätzliche Nachweise erbringen müssen, um ihre Arbeitsunfähigkeit zu belegen. Pauschale Angaben reichen nicht aus. Es ist Aufgabe des Arbeitnehmers, konkrete Symptome und deren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit darzulegen.
Lehren für Arbeitgeber aus diesem Urteil: Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht einfach hinnehmen
Das Urteil des LAG Niedersachsen unterstreicht die Bedeutung klarer und rechtssicherer Kommunikation im Arbeitsverhältnis. Arbeitgeber sollten bei Freistellungen und Krankmeldungen stets sorgfältig vorgehen. Eine unbedachte Äußerung kann ebenso wie eine fehlerhafte Bescheinigung erhebliche rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Unternehmen sollten ihre internen Prozesse überprüfen und sicherstellen, dass Führungskräfte über die rechtlichen Rahmenbedingungen informiert sind.
Das Thema Entgeltfortzahlung bei Freistellung bleibt komplex und erfordert eine fundierte rechtliche Bewertung. Arbeitgeber, die sich in ähnlichen Situationen wiederfinden, sollten frühzeitig rechtliche Beratung in Anspruch nehmen, um Streitigkeiten zu vermeiden.
* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich aus Gründen der Lesbarkeit wird auf andere Schreibweisen verzichtet.